Fluchtwege

Petkum, Fähre

Viele der Möglichkeiten zum illegalen Grenzübertritt in die Niederlande waren bereits in den ersten Monaten des Jahres 1933 aufgeflogen. In Emden gab es noch funktionierende illegale Strukturen, die in der Lage waren, Grenzübertritte zu organisieren. Diese Möglichkeiten wurden noch bis Mitte des Jahres genutzt. Nachdem die Überfahrt aus dem Emder Hafen über den Dollart wegen der Bewachung zu gefährlich geworden war, mussten für die in Emden angekommenen Flüchtenden neue Grenzübergänge gefunden werden, die weiter südlich lagen. Dazu mussten die Flüchtenden zunächst mit der Fähre von Petkum nach Ditzum über die Ems gebracht werden.

Zu Pfingsten 1933 wurde eine Gruppe von zwölf Personen in die Niederlande gebracht. Hermann Prüser, bis in 1933 Gemeinderatsmitglied der KPD in Bremen, leitete die Aktion. Er hat auch darüber berichtet:

"Ich klingle an der Anlaufstelle. Erst mal macht niemand auf. Ich klingle nochmals und nochmals. Endlich geht die Tür einen Spalt auf. Ich sehe eine Frau, die Frau sieht mich und schmeißt die Tür wieder zu. Ich klingle und klingle und klingle, und dabei gucke ich mich um, ob das nicht schon den Nachbarn auffällt. Es dauert eine Ewigkeit, bis die Frau wieder aufmacht. Ich setzte einen Fuß zwischen die Tür und sagte meinen Anlaufvers. Die Frau kannte den Anlaufvers offensichtlich nicht, er war ja auch für ihren Mann bestimmt; aber sie lässt mich in die Wohnung und führt mich in die Küche." Weil Prüser nicht mit einer Frau, sondern mit einem Mann verabredet war, nahm er eine abwartende Haltung ein, obwohl die Zeit drängte. Dann wandte sich die Frau an ihn: "Da fasst mich die Frau an der Schulter und sagt leise: 'Genosse, auch ich bin Genossin.'"

Nachdem die Frau ihn nochmals drängte, erzählte Prüser, warum er hergekommen war. Und dann wurde auch deutlich, warum der Mann nicht da war:

"'Emigranten müssen über die Grenze. Mit dem Zwei-Uhr-Zug kommen die ersten. Ich gehe zum Bahnhof und nehme sie in Empfang. Aber, wo kommen sie unter? Wie kommen sie über die Grenze?' 'Das müssen wir Frauen organisieren', antwortete sie. 'Heute früh um fünf wurden die Männer verhaftet - meiner auch.'"

Während die Frauen für die Flüchtlinge Unterkünfte organisierten, ging Prüser zum Emder Bahnhof:

"Die ersten kamen mit dem Zwei-Uhr-Zug. Es waren nicht nur Parteigenossen, auch Sozialdemokraten und Gewerkschafter stiegen aus dem Zug. Sie kamen aus dem ganzen Reichsgebiet. Sie wurden überall gejagt." Am Abend wurden die Flüchtlinge in Scheiwes Café untergebracht, das inzwischen von den Nazis geschlossen worden war. Am folgenden Morgen wurden sie mit der Fähre von Petkum nach Ditzum über die Ems und weiter in ein verlassenes Fischerhaus am Dollart gebracht: "Am Deich standen ein paar Fischerhütten. Eine der Fischerhütten gehörte einem Genossen, der bereits verhaftet war. Die Frauen haben die Flüchtlinge zu dieser Fischerhütte geschleust." Niederländische Fischer brachten sie anschließend mit ihren Booten über den Dollart.

Auch der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Hermann Tempel aus Ditzum floh auf diesem Weg in die Niederlande.

Maßgeblich beteiligt bei der Hilfe für sozialdemokratische Flüchtlinge war H. Wilts, Mitglied der Emder SAJ. Am 16. August 1936 verhalf er Werner Blumenberg, Leiter der Widerstandsgruppe "Sozialistische Front", und Frieda Vahrenhorst zur Flucht in die Niederlande. Nachdem die beiden bei Wilts Bruder in Emden übernachtet hatten, fuhren sie mit der Fähre von Petkum aus über die Ems. Wilts berichtet: "Ich habe die beiden dann auf der Fähre getroffen und sie mit dem Bus nach Bunde geschickt. ... Von Bunde aus sind wir dann nach Landschaftspolder und dann nach Straatensiel, und da habe ich sie über die Grenze gebracht. Auf einer Brücke haben wir uns getrennt, so daß die zwei Emigranten sich in Holland befanden, da die Brücke den Grenzgraben überspannte."

Wie dann die Flucht auf der niederländischen Seite weiter verlief, ist nicht beschrieben. Auch die Emder SAJ hatte gute Kontakte zu niederländischen sozialdemokratischen Organisationen. Ob hier aber eigene Strukturen für die Fluchthilfe existierten oder die Unterstützung durch die Rode Hulp und die CPN in Anspruch genommen wurde, ist nicht bekannt.

Es fällt schwer, den Bericht von Wilts nachzuvollziehen. Mit "Straatensiel" könnte der niederländische Ort Nieuwe Statenzijl gemeint sein. Bei dem erwähnten Grenzgraben kann es sich nur um das Wymeerer Sieltief handeln. Zwischen Kanalpolder und Nieuwe Statenzijl gibt es eine Brücke über diesen Kanal. Die Grenze verläuft hier aber zwischen dem Kanal und dem Fluss Westerwoldsche Aa. Mit der Überquerung des Kanals war also noch nicht viel erreicht, man musste anschließend noch den Fluss überqueren. Das war, wie an anderer Stelle beschrieben, an der Schleuse möglich, aber nicht ohne Hilfe von niederländischer Seite, die vorher organisiert werden musste. Es gibt weiter südlich, gegenüber dem niederländischen Oude Statenzijl, in Landschaftspolder und Charlottenpolder weitere Brücken über das Wymeerer Sieltief. Von dort besteht die Möglichkeit, die Grenze auf dem Landweg zu überqueren und nach Nieuweschans zu gelangen, wo auch Fluchthelfer zur Verfügung standen.

Die Gestapo hatte bald so viele der deutschen Fluchthelfer verhaftet und die illegalen Strukturen so sehr geschwächt, dass eine organisierte Flucht über Emden kaum noch möglich war. Auch die Fahrt über den Dollart bereitete häufig Probleme. Trotzdem sind weiterhin von Petkum aus Menschen illegal in die Niederlande gebracht worden. Erich Bolinius berichtet (auf plattdeutsch) über den Fluchthelfer Ude Reintsema, der 1937 drei Nonnen vor den Nazis gerettet hat. Wir haben den Bericht nebst einer Übersetzung ins Hochdeutsche auch unter unserer Rubrik "Artikel" wiedergegeben.

Irene Hübner, Unser Widerstand, S. 34 f

Die Sozialistische Front war eine Widerstandsgruppe im Raum Hannover, die sich hauptsächlich aus Mitgliedern und Anhängern der SPD zusammensetzte, in der aber auch Mitglieder der SAP und der KPD tätig waren.

Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstands und der Verfolgung 1933 - 1945, Band 3, hrsg. vom Studienkreis zur Erforschung und Vermittlung der Geschichte des Widerstands 1933 - 1945 und dem Präsidium der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten, Pahl-Rugenstein Verlag Köln, 1986